Andriy

von Claudia Grothus

Wie er da saß und sein Brot kaute. Wir warfen heimliche Blicke auf ihn. So jung war er und seine Augen waren groß und hell zwischen den sandfarbenen Konturen seiner Wimpern. Nur selten hatten wir die Gelegenheit, in diese Augen zu sehen. Er hielt am liebsten die Lider und den Blick ein wenig gesenkt. Bescheiden. Oder schüchtern. Wir wussten es nicht genau. Die Misstrauischen sagten: verschlagen. Aber das war nur Neid, oder Angst.

Er saß da und biss von seinem Brot ab. Selbst diese kleine Bewegung seines Arms, in dem halb aufgekrempelten Hemd, war auf eine Art geschmeidig. Sehnen spielten an seinem Handgelenk, Muskeln in seinem Unterarm.

Er kam direkt aus dem Krieg. Von ganz vorne. Aus den Gräben, aus den zerbombten Häusern, in denen sie sich eine Schlacht Mann gegen Mann geliefert hatten. Tage. Wochen. Manche sagten, er hätte viele erschossen. Es wurde sogar behauptet, dass er einen mit bloßen Händen und einer Eisenstange erstickt hätte.

Dabei konnten sie das gar nicht wissen. Er sprach nie darüber. Sein Deutsch war unbeholfen und stockend. Er sagte generell nur wenig.

Wir fragten uns, wieso er überhaupt das Land hatte verlassen dürfen. Die Männer mussten doch alle dableiben und kämpfen. Vielleicht hatte er einen psychischen Schaden? Oder irgendetwas Innerliches – eine Allergie oder etwas an der Lunge, am Herzen? Kaum vorstellbar, bei diesem perfekten Körper.

Sie machten Bemerkungen hinter seinem Rücken. Spotteten leise. Nur gerade so, dass es die Kollegen hören und mit ihnen feixen konnten. Vor allem die Männer ließen keine Gelegenheit aus, eine Schwäche an ihm zu finden. Andriy machte sie durch seine bloße Gegenwart wütend. Diese Männer, die es zu nichts gebracht hatten, die in ihrer orangen Arbeitskluft weithin als Versager sichtbar waren. Diese Männer, die sich bei jedem Bier fragen mussten, ob sie sich das noch leisten konnten.

Andriy hingegen sah in seiner orangen Jacke aus – wie ein Held! Wenn er sich wenigstens für irgendetwas zu fein gewesen wäre. Aber er leerte die Mülleimer und führte den Besen, als wäre es nur selbstverständlich, eine Arbeit zu tun.

Die Frauen waren nicht besser. Andriy war die Verkörperung dessen, was sie nicht haben konnten, nie gehabt hatten, nie bekommen würden.

Sie ließen ihn kriechen. Er bekam die Arbeiten, bei denen man auf dem Boden kniet, Erde harkt, Müll aufhebt. Besonders beim Bepflanzen musste man so richtig mit den Händen bis runter in den Dreck. Sie standen um ihn herum, stützten sich auf ihre Schaufeln und schauten ihm zu. In dieser Haltung ist niemand mehr geschmeidig, sondern nur noch ein Arsch, der sich in die Luft reckt.

Andriy blieb ruhig. Tat, was man ihm auftrug. Ich konnte kaum hinsehen.

Mit der Zeit gewöhnten sich alle daran. Wir sahen kaum noch seine hellen Augen. Sein Kopf neigte sich und seine Schultern wurden rund durch das Fegen, das Harken und Schleppen. Er wurde ein unsichtbarer Niemand, wie wir alle. Niemande in signalorangen Latzhosen.

Wenn Andriy nicht in der Nähe war, dann nannten sie ihn den Killer oder den Partisanen. Und obwohl er inzwischen ganz gut Deutsch verstand, sprachen sie immer noch laut und überdeutlich mit ihm. „Du hier sauber!“

Es war Bertram, der auf die Idee kam, eine ganze Matte Silvesterböller hinter Andriy zu zünden. Er tat es auf einer Verkehrsinsel, auf der wir das Unkraut zwischen den Bodendeckern jäteten. Andriy kniete mit einem Bein auf dem Boden und stützte sich auf seine Harke, um eine festsitzende Grassode mit der Hand zu lockern. Da fing es direkt hinter ihm an, im Stakkato zu knallen.

Andriy flog auf die Beine, packte mit seiner freien Hand den neben ihm stehenden Sozialdienstler, schleuderte ihn hinter unseren parkenden Wagen und rollte sich mit einer blitzschnellen Bewegung zwischen die Reifen. Er riss seine Harke zu sich heran wie ein Sturmgewehr und wurde dann gewahr, dass Bertram sich auf der Insel vor Lachen auf die Schenkel schlug.

Andriy kroch unter dem Wagen hervor und stand langsam auf. Stand auf bis zu seiner vollen Größe mit geraden Schultern und gehobenem Kinn.  Ganz ruhig. Und er sah Bertram einfach nur an. Und Bertram bekam Schiss. Es fehlte nicht viel und er hätte sich in die Hose gepinkelt. Er schmiss seine Schaufel hin, drehte sich um und ging – nein, flüchtete, so gebremst es eben möglich war.

Andriys Faust am Stiel seiner Harke ließ ganz langsam wieder locker.

 

Diese Geschichte wurde auch bei kunstkulturliteratur.com im Rahmen der Ausschreibung zum Thema "Aufrichten" veröffentlicht.