Tag 12 – Das geheime Zimmer

Wieder superfrüh wach. Ich beschließe, noch vor dem Frühstück Kiesstrandwandern zu gehen. Denn morgens steht die Sonne auf der Küste und den Kreidefelsen. Schon vor acht Uhr spaziere ich über die leere Promenade hinunter zum Ufer und dann immer am Wasser entlang. Ich übe mein Gleichgewicht auf den großen, vom Meer rundgeschliffenen Felsen. 

Der Wind ist sehr frisch, ich muss meine Kapuze aufsetzen. Ein Schwanenpaar schippert vorbei. Ab und zu bleibe ich stehen und halte mein Gesicht in die Sonne. Ich muss nachdenken. Ich muss über so vieles nachdenken. 

Das Geschehen in meinem Roman verdichtet sich zum eigentlichen Kern der ganzen Geschichte. Im Vorfeld fiel es mir schwer, zu beschreiben, worum es überhaupt geht. Ich hatte so eine Ahnung, aber der Roman musste sich erst selbst bis genau an diesen Punkt erzählen, an dem ich erkennen kann, was das Herzstück ist. 

Meine Protagonist:innen sind jetzt – sowohl räumlich als auch psychisch – dort angekommen, worauf all die Begebenheiten, vom ersten Kapitel an, hingesteuert haben: Das geheime Zimmer wurde gefunden.

Franzi und Jakob haben es entdeckt und sich dort versteckt, als ihre pubertierenden Seelen die Situation nicht mehr bewältigen konnten. 

Natürlich ist es eine Metapher. 


Wenn Menschen (insbesondere Kinder) nicht mehr handlungsfähig sind , dann richten sie sich tief in ihrem Inneren ein geheimes Zimmer ein. Idealerweise fühlen sie sich dort wohl, finden Entspannung, spielen dort mit ihren Geheimnissen und können sich in dieses Zimmer zurückziehen, wenn die Welt zu doll wird. Das sind diejenigen, die wissen, wo die Tür zu ihrem geheimen Zimmer ist und die den Schlüssel besitzen. 

Gelernt haben wir allerdings, in dieses Zimmer alles reinzustopfen, was im Weg ist und nervt und Kummer macht und überhaupt total scheiße ist, dann die Tür zu verrammeln, den Schlüssel wegzuschmeißen und fortan zu behaupten, da wäre nie irgendein Zimmer gewesen – so lange, bis wir es selber glauben. 

Das geht dann ein paar Jahre oder Jahrzehnte gut. Je nach dem, was drin ist. Wenn es schlimm kommt, dann geht das ein paar Generationen gut. 

Irgendwann ist die Zeit einfach reif. Dann muss man da mal reingucken. Oft wehren wir uns standhaft und fangen an, sehr merkwürdige Dinge zu tun, um unser geheimes Zimmer zu vertuschen. Schlimmstenfalls sitzen wir heulend vor der Tür und behaupten, jemand anderes hätte sie zugesperrt. Und dann entsteht eines Tages unweigerlich dieses, schon zitierte, morphische Feld. 

Genau das passiert gerade in meinem Roman. Da gehen reihenweise Zimmertüren auf. 

*

Ich schreibe jetzt schon den zweiten Tag an Kapitel 8. Es wird sehr lang. Da muss eine Lösung her. Kurzentschlossen teile ich das Kapitel und schiebe noch eins aus Sicht von Jakobs Oma Esther dazwischen. Jetzt werden es zehn Kapitel und zehn Protagonist:innen. Passt!