Ebbe und Flut

von Claudia Grothus

Ein letztes Mal stand er barfuß im nassen Sand, vor sich die endlose Weite des Wattenmeers. Er atmete den Duft von Muscheln und gestrandeten Algen aus. Stopfte die klammen Hände in die Hosentaschen und drückte die Zehen in den Schlick.

Morgen würde das alles hier, dieses Reetdach-Nest, die Tee-mit-Kluntje-Provinz hinter ihm liegen. Die Welt wartete auf ihn. Endlich!

Am nächsten Tag saß er, mit nichts weiter, als einem prall gefüllten Seesack, im Zug nach Berlin.

Er meisterte den Großstadtbahnhof, als würde er allein durch das Hiergewesensein eine Weltgewandtheit erlangen. Über grelle, kalt riechende Tunnel fand er die richtige U-Bahn. Checkte im Studentenwohnheim ein, warf den Seesack auf das karge Bett und sich selbst hinterher.

Er war da! Das Leben konnte anfangen.

Aber es fing nicht an. Nicht heute, nicht morgen. Stattdessen verhaltene Grüße im Treppenhaus, eine Ecke im Gemeinschaftskühlschrank, Regen auf Waschbeton und ein rot verschachtelter Gebäudeplan der TU.

Wenn er abends am Fenster stand, sah er dem Strom der Autos zwischen Häusern und Ampeln zu. Um den Himmel zu sehen, musste er sich ganz bis ans Glas lehnen und den Kopf in den Nacken legen. Im Dunkeln leuchtete sein Zimmer abwechselnd rot, gelb und grün.

Manchmal, wenn sein Blick allzu hart an die nächste Hauswand prallte, erinnerte er sich an Ebbe und Flut, an das stille, gewaltige Meeresatmen. Diese Stadt atmete nicht. Sie pulsierte.

Dann, auf einem dieser langen, gebohnerten Uniflure, kam sie ihm entgegen. Mit buntsamtenen Schlaghosen, wilden, fuchsroten Locken, leuchtenden Augen und breitem Lächeln. Er brauchte gar nichts zu tun, nur zurückzulächeln.

Dieses Mädchen passierte ihm von selbst. Wie ein Strudel rauschte sie um ihn herum und er drehte sich mit, ließ sich hineinziehen, folgte ihr - schwindelig – über die nassen Straßen.

Sie fanden einen indischen Imbiss, bestellten Chapati und Fisch-Curry, verbrachten Stunden im Neonlicht und sahen nichts als die Augen und die Lippen des anderen.

Sie nahm ihn bei der Hand und sie liefen durch die nächtliche Stadt – mit fliegenden Jacken, Haaren und Herzen. Schütteten sich aus vor Lachen. Warfen sich einander in die Arme – plötzlich so nah.

Da war es, das Leben, dieses Wilde. Ein Rauschen und Brodeln. Der Regen prickelnd, der Asphalt romantisch, magisch bunt die beleuchtete Nacht.

Sie blieben zusammen. Tage, Wochen. Trennten sich nur für ihre Kurse an der Uni.

Er lernte mit akribischer Gewissenhaftigkeit, beseelt von der Überzeugung, auf dem besten Weg zu sein. Schob in den Vorlesungen immer wieder ihr Bild – ihre Haut, die geschwungene Linie ihrer Silhouette zwischen den Laken - aus seinen Gedanken und richtete all sein Hören und Sehen auf den Vortrag.

Sie stützte in ihren Seminaren den Kopf auf die Hand, schloss die Augen, spürte der Wärme und dem Duft ihrer letzten Nacht nach. Fühlte ihn noch. Kritzelte verträumte Kringel auf ihren Block und überlegte, wohin sie ihn heute führen, welche Inspiration sie ihrer Liebe heute geben könnte.

Sie ließen sich durch Museen und Konzerte treiben, bis sie satt waren von Bildern und Klängen. Sie aßen in den ständig neu eröffnenden Restaurants und schmeckten sich durch die Küchen der ganzen Welt. Später landeten sie sanft in ihrem oder seinem Zimmer und fielen in den nächsten Genuss, bis ihre Seelen, erschöpft und ineinander verschlungen, Schlaf fanden.

Und wenn er morgens im kalten Licht erwachte, leise eine ihrer schlafenden Locken  zwischen den Fingern streichelte, dann stellte er sich vor, sie mitzunehmen. Sein wildes Mädchen an das wilde Meer zu bringen.

Sie segelten durch das Semester wie über die Weltmeere. Hohe Wellen und sanftes Wiegen, tosende Brandung und leises Klirren tausender kleiner, bunter Steine, wenn sich das Wasser davon zurückzieht.

Als es auf den Frühling zuging, war er längst mit der Stadt verwachsen. Bewegte sich im Puls der U-Bahnen, mied lässig die Touri-Hotspots und kaufte bei seinem Lieblingstürken ein.

Seine ersten Seminarscheine nahm er entgegen wie Goldmedaillen.

Sie feierten den Semesterabschluss mit einem Picknick im Bett. Aßen sich satt an Schafskäse und Pita, tranken billigen Rotwein dazu und lächelten sich kauend an. Dann schlief er ein.

Und sie blieb mit den Krümeln auf dem Laken zurück. Der Abend, der noch vor ihr lag, war in einen kleinen Abgrund aus Zufriedenheit gefallen.

Er schlief mit lockeren Fäusten über dem Kopf, die Lippen geöffnet, mit einem winzigen Stückchen Feta im Mundwinkel. Sein Anblick erinnerte sie an einen sattgetrunkenen Säugling.

Sie wischte die Krümel vom Laken und schlich sich mit dem Rest Wein und einem Buch unter die Stehlampe in einen Sessel. Kreuzte die Beine, trank aus der Flasche, fand nicht in ihren Roman.

In den Ferien stieg sie mit ihm und einem grasgrünen Rucksack in den Zug ans Meer. An einem winzigen Bahnhof angekommen, staunte sie über so viel Himmel und der Seewind blies ihr die Locken ins Gesicht. Sie band lachend ihr Haar zurück, als hätte der Wind sie liebevoll geneckt.

Als sie sein reetgedecktes Elternhaus sah, konnte sie gar nicht glauben, dass in solchen Häusern nicht nur Touristen wohnten. Ihm stockte ein wenig der Atem, als seine Mutter ihr zum ersten Mal begegnete. Aber sie bestand vor dem kritischen Blick, eroberte auch dieses Herz mit ihrem rückhaltlosen Lächeln.

Sein Vater stammelte, irritiert von ihrer unbekümmerten Sinnlichkeit, eine Begrüßung. Er vergaß die Pfeife in seiner Hand und sah den beiden nach, wie sie die Stiege in das Zimmer seines Sohnes hinaufgingen. Hilfesuchend schaute er seine Frau an. Die zog die Augenbrauen etwas hoch und zuckte mit den Schultern.

In seinem Zimmer ließ sie ihren Rucksack auf den Boden gleiten, setzte sich kurz spielerisch auf die Bettkante und probierte leicht hüpfend die Federung. Dann schaute sie aus dem kleinen, gebogenen Fenster und wollte sofort hinaus ans Meer.

Sie steckte ihre Hosenbeine in geliehene Gummistiefel und er hüllte sie in einen gelben Regenmantel. Sie hatte das Gefühl, ein Zelt anzuziehen.

So spazierten sie am Watt entlang, tranken Tee mit Kluntje, bewunderten den Tanz der Möwen mit dem Wind und kauten Matjesbrötchen.

Atmeten die raue, salzige Luft.

Am Abend führte er sie in die Dorfkneipe. Trat mit seinem wilden Mädchen aus Berlin in die vertraute, bierdunstige Wärme des Schankraums. Wie sie sich nach ihnen umdrehten! Die Alten glotzten, die Jungen, die Spielgefährten seiner Kindheit, lachten, breiteten die Arme aus und schlugen ihm auf die Schultern. Mit leuchtenden Augen hießen sie die Schönheit an seiner Seite willkommen.

Er zwinkerte ihr zu, als zur Feier des Wiedersehens eine Runde Schnaps serviert wurde. Sie - bereit alles mitzumachen – schüttete sich die klare brennende Flüssigkeit hinunter. Die anderen applaudierten ihr, wie nach einer bestandenen Mutprobe. Und er thronte über dem Respekt seiner Freunde wie ein bescheidener König, der Geschenke aus fernen Ländern gebracht hatte.

An den hellen, windigen Tagen folgte sie ihm voller Erwartung. Lachte, wenn sich ihre Fußspuren mit Wasser füllten, fand begeistert einen Seestern, lief der endlosen Weite entgegen und hörte nicht auf ihn, als er sie warnte. Rannte an seiner Hand zurück zum Strand, bevor das Meer sie einholte.

Dann stand sie da, wollte unbedingt warten, bis das Wasser herankam. Und obwohl es kalt war, zog sie die Stiefel aus, um ihre nackten Füße vom Tasten der Flut umspülen zu lassen.

Er schaute ihr lächelnd zu. Stolz – auf sie und auf das Meer.

Sie sah ihn fragend an. Wartete auf das, was diesem Anfang folgen sollte. Aber seine Augen ruhten schon wieder auf dem Horizont.

Dies alles gehörte ihm. Die See, der Meeresatem, das Mädchen. Er hielt ihre Hand in seiner. Mit Sand dazwischen vom Muscheln sammeln.

Wenn ihnen das Wetter zu rau wurde, saßen sie drinnen in der Küche bei mütterlichem Kuchen und freundlichen Gesprächen über das Studieren, die berufliche Zukunft und die große Stadt.

An den Abenden lernten sie, schrieben an Referaten, lasen.

Immer wieder ließ sie ihr Buch sinken und schaute ihn an. Wie ernst und konzentriert er arbeitete. Als wäre es das Rechtschaffendste der Welt.

Und so blieb es. Die Grenze des Wassers pendelte im Zwölfstundentakt. Als würde das Meer auf ewig neue Chancen anbieten. Aber er, scheinbar weise, nutzte keine einzige.

Und bevor ihre Seele im Schlick versickern konnte, packte sie ihren Rucksack.

Er, fassungslos, krallte sich in seine Hosentaschen und verstand nicht.

Sie zerrte sich das Band aus den Haaren, schüttelte ihre Locken frei, trat vor die Tür, ließ den Seewind ihre Strähnen ins Gesicht wehen und stieg in ein Taxi.

Die Gummistiefel ließ sie leer und verzagt im Windfang zurück. Es müsste Blut darin sein, dachte er, weil sie die falsche Braut war.

Er ging an den Strand, stand da.

Kehrte um.

Arbeitete, als wäre es das Rechtschaffendste der Welt.

Ging wieder zum Strand.

Irgendwann merkte er, dass sich das Meer nicht mehr bewegte.

Es atmete nicht mehr.

Die Gezeiten hatten aufgehört.

(Die Kurzgeschichte "Ebbe und Flut" ist erschienen in der Jahresanthologie 2022 der Gruppe 48 "Das Wort ergreifen" im Mackinger Verlag)