Ausflucht

von Claudia Grothus

Als Justin sich gegen die schwere Metalltür drückte, öffnete sie sich mit einem lauten, ansteigenden Quietschen. Sofort schlug ihm eine Bö entgegen. Der kalte Wind klang auf dem Hochhausdach wie eine lodernde Flamme. Noch war der Frühling nicht in Berlin angekommen.

Die Stadt breitete sich unter ihm aus, wie ein endloser, unebener grauer Teppich. Das letzte Licht des Nachmittags spiegelte sich golden auf der Kugel des Fernsehturms. Und dort, am Rand des Daches, vor dem Sicherungsgitter, stand Oma, das Gesicht nach Osten gerichtet. Er hatte sich schon gedacht, dass er sie hier finden könnte.

Die Schließautomatik ließ die Tür hinter ihm mit einem lauten Knall zufallen. Oma drehte sich um.

„Justin, mein Junge, da bist du ja!“

Er trat zu ihr in den Windschatten eines Abluftkamins.

„Oma, ich habe dich gesucht. Was machst du denn hier oben?“

„Ich wollte mal schauen, ob man etwas von dem Krieg erkennen kann.“

„Aber den kannst du doch von hier aus nicht sehen!“

„Doch, genau von hier haben wir früher immer in den Ostblock geguckt. Und das konnte man gut sehen.“

„Oma, das war die DDR. Die fing ja auch gleich da hinten an. Aber die Ukraine ist tausend Kilometer weit weg.“

„Die ganze Verwandtschaft kam uns besuchen, nur um von unserem Dach nach drüben zu gucken. Das war hier eins der ersten Hochhäuser.“

„Ich weiß, das hast du ja schon oft erzählt. Aber wenn du den Krieg in der Ukraine von hier aus sehen könntest, dann wäre das eine Atombombe.“

„Meinst du wirklich, der wirft eine Atombombe?“

„Nein, Oma. Ich meine, dass du dich erkältest, wenn du hier stehen bleibst.“

„Ich dachte ja nur, dass man womöglich was sehen kann. Die armen Leute da drüben.“

„Du könntest ihnen helfen. Ich bringe morgen Spenden zur Sammelstelle. Vielleicht hast du ja etwas, was sie brauchen können.“

„Was brauchen die denn?“

„Na, alles Mögliche. Lebensmittel, warme Kleidung, Schlafsäcke ...“

„Ich hatte noch nie einen Schlafsack.“

„... oder etwas anderes.“

Justin und seine Oma starrten fröstelnd, mit hochgezogenen Schultern und tief in den Taschen vergrabenen Händen auf den Horizont.

„Ich habe im Keller noch einen ganzen Karton dieser Kaffeepads. Mir ist ja die Maschine dafür kaputtgegangen. Und auf die neue Maschine passen die nicht.“

„Aber das ist doch schon über zehn Jahre her! Da war ich noch klein!“

„Ja sind die da etwa wählerisch in ihrem Krieg? Die Kaffepads sind tadellos. Da ist nichts dran.“

„Na ja, weißt du, für die Pads braucht man ja diese spezielle Maschine. Da wäre löslicher Kaffee sinnvoller.“

„Ich kauf denen doch jetzt keinen löslichen Kaffee! Weißt du, was der kostet?“

Justins leises Seufzen wurde vom Wind übertönt. „Ich meinte ja nur.“

Eine Taube segelte heran, wollte sich auf dem Gitter niederlassen, flatterte aber angesichts der beiden Menschen weiter.

„Ich habe da eine Winterjacke. Die passt mir nicht mehr.“

„Das ist doch eine gute Idee.“

„Aber die ist richtig schön, die war teuer.“

„Na ja, wenn sie nur im Schrank hängt ...“

„Dieses Volk hat ja überhaupt keinen Geschmack. Die wissen das nicht zu schätzen.“

„Wie kommst du denn darauf?“

„Die Pflegerin von Tante Maria, diese Dalia, die trägt Schlappen aus rosa Plastik mit Glitzersteinen drauf!“

„Oma, die kommt aus Litauen!“

„Ja, das ist doch auch da.“

„Nein, das ist ganz woanders. Und Dalia kann tragen, was sie will.“

„Nee, ich mach das nicht mit der Jacke. Dafür ist die zu schade. Vielleicht passt sie mir ja mal wieder. Ich muss sowieso abnehmen.“

„Du könntest auch einfach Geld spenden, auf ein Konto.“

„Das kann ich mir nicht leisten.“

„Es müsste ja nicht viel sein, fünf Euro oder so. Das kannst du bestimmt. Jede Spende hilft.“

„Ach was, fünf Euro ist ja nichts. Was sollen die von mir denken?“

„Oma, da denkt niemand ...“

„Meine Rente ist so klein, da kann ich nicht auch noch was spenden. Weißt du, wie viele Jahre ich dafür gearbeitet habe? Und dann so eine kleine Rente! Eine Schande ist das.“

„Ist schon gut. Du musst ja nichts spenden. Komm, lass uns mal runtergehen. Es ist eiskalt.“

Justin wandte sich im Wind halb um, aber Oma blieb noch stehen.

„Sind die jetzt da draußen bei der Kälte?“

„Wer?“

„Na die in der Ukraine.“

„Die meisten dürften in Kellern oder U-Bahnhöfen sitzen. Warm ist es da bestimmt nicht. Für die Flüchtlinge ist es wahrscheinlich schlimmer.“

„Ach, Flüchtlinge gibt es auch?“

„Ja sicher, Oma. Die werden doch bombardiert. Die bringen ihre Kinder und alten Leute aus dem Land.“

„Kommen die auch zu uns?“

„Ja, einige schon. Erst gestern kamen über sechstausend am Hauptbahnhof an.“

„Was? Sechstausend?! Wo sollen die denn alle hin? Wir haben doch so schon Wohnungsnot! Das geht doch nicht. Wir können doch nicht aus der ganzen Welt Leute aufnehmen! Das macht mir wirklich Angst!“

„Komm, Oma, wir gehen runter ins Warme.“

„Ja, Junge, und dann gehst du mal zum Wienerwald und holst uns zwei schöne halbe Hähnchen! Mit Pommes! Ich gebe einen aus!“

Ihre Stimmen wurden leiser im zunehmenden Wind. Es war jetzt fast dunkel. Die eiserne Tür öffnete sich quietschend.

„Was macht denn die Uni?“

Die Tür fiel krachend zu.