Ich Sperling - von James Hynes

Detailreich und mit großer Geduld erzählt

Wir befinden uns im Römischen Reich des 4. Jahrhunderts n.Chr. in Carthago Nova (heute Cartagena) an der spanischen Mittelmeerküste. Dort lebt ein kleiner Junge ohne Namen. Alle nennen ihn nur Pusus (Junge), weil Sklaven keine Namen haben. Sie sind Dinge.

Der Protagonist erzählt als alter Mann rückblickend von seiner Kindheit und Jugend in einem Bordell.

Ich hatte befürchtet, dass es sich um ein voyeuristisches Werk, also versteckte Pornografie handelt. Dem ist nicht so. Im Gegenteil: Es wird sehr deutlich, dass Sklaverei und Prostitution überhaupt gar nichts mit Erotik oder Romantik zu tun haben.

James Hynes taucht tief in den sehr akribisch recherchierten historischen Alltag ein, romantisiert nicht und weckt mit großer erzählerischer Kunstfertigkeit die beiläufige Erkenntnis, dass sich die Menschen heute, in ihrem Streben nach Macht, Bequemlichkeit, Reichtum und Bedürfniserfüllung gar nicht mal so sehr von denen im alten Rom unterscheiden.

Man stelle sich aber jetzt nicht so einen typischen Historienroman vor, der seine Spannungsmomente aus der schlimmen Ungerechtigkeit zieht und am Ende irgendeine Art von Genugtuung serviert.

Mitnichten!

Der erzählende Protagonist macht von Anfang an klar, dass dies keine Geschichte mit einem guten, oder überhaupt irgendeinem Ende ist. Auch in Handlungssträngen, die uns geübte Belletristik-LeserInnen glauben lassen, dass wir dieser entflohenen Sklavin oder jener verkauften Freundin später im Buch wiederbegegnen, nimmt er uns auf der Stelle die Illusion, das Leben hätte in irgendeiner Weise Ähnlichkeit mit Sandalenfilmen.

Also ein Sumpf aus Grausamkeit und Frustration? Nein. Oder doch? Lange Zeit weiß man gar nicht, warum man eigentlich weiterliest. Die Geschichte bewegt sich langsam und gemächlich, wie ein Herbstblatt, das von einem lauen Lüftchen hierhin und dahin geweht wird. Scheinbar unspektakulär, aber man kann den Blick nicht abwenden.

Ich Sperling ist eine detailreich erzählte Geschichte aus der Wahrnehmung eines kleinen Jungen. Pusus entdeckt das Leben seiner Zeit, lernt, wie die Menschen ticken, knüpft innige Beziehungen zu den anderen „Wölfinnen“ des antiken Bordells und begreift nach und nach, was es bedeutet, zu leben.

Dabei bedient sich der Autor virtuos einer sehr angenehmen Sprache und einer ruhigen Erzählweise, die sich reichlich Zeit lässt, ohne die Lesenden im Geringsten zu ermüden. Immer wieder wird das Buch zum Pageturner, auch wenn der kleine Pusus einfach nur Brot einkaufen geht.

Ich bewundere James Hynes sehr dafür, dass er in seinem Roman so viel Raum für Details und Atmosphäre schafft. Dass er sich traut und die enorme Geduld an den Tag legt, die Wege von Pusus wieder und wieder zu erzählen, und damit eine Eindringlichkeit zu schaffen, die in keiner Weise langweilt. Er bringt fast unmerklich die großen Themen der antiken Philosophen in seiner Geschichte unter und bleibt dabei in der vollkommenen Einfachheit des Denkens eines kleinen Jungen.

Aus jeder Zeile dringt die Melancholie des alten Sklaven und die Liebe zu seinem früheren Selbst.

Nicht nur aus schriftstellerischer Sicht ein unglaubliches Werk voller nachwirkender Kraft!

James Hynes
Ich Sperling
dtv
ISBN-13: ‎ 978-3423283557