Vater
von Claudia Grothus
„Grüß ihn von mir!“ Bine umarmte mich und in ihren Augen glitzerten Tränen.
„Mach ich!“ Ich nahm meine Reisetasche und lief hinunter zur Garage.
Es war früh am Samstagmorgen, keine LKW, wenig Verkehr. Der Himmel verfärbte sich langsam in ein blasses Türkis, durchzogen von Kondensstreifen. Noch waren die Bäume am Rand der Fahrbahn kahl. Ein heller, kalter Märztag.
Meine Fahrt würde fünf Stunden dauern. Ich hatte Zeit zum Nachdenken.
Der Anruf war gestern Abend gekommen. Das Marienhospital. Nachbarn hatten meinen Vater im Garten liegend gefunden und den Notarzt gerufen. Ein geplatztes Hirnaneurysma. Die Ärztin am Telefon hatte uns keine Hoffnung auf Genesung gemacht.
Jetzt war es also soweit. Wir hatten ja gewusst, dass irgendwann so etwas kommen würde, aber trotzdem nicht damit gerechnet.
Mein Vater war 76 und immer ein harter Knochen gewesen. Sehnig, hager, mit langen weißen Haaren und dem Siebzigerjahre-Bärtchen. Er war ein alter Hippie. Als ich klein war, fuhren meine Eltern mit mir im VW-Bus nach Griechenland, Spanien und Marokko. Wir schliefen an Stränden und trafen Leute, die an Lagerfeuern Gitarre spielten. Die Männer trugen Lederjacken mit Fransen, die Frauen bunte Kleider mit weiten Ärmeln.
In unserem Haus, einer Jugendstilvilla, war schon mein Vater aufgewachsen. Drinnen war nichts von dem alten Glanz geblieben. Es gab kein einziges Möbelstück, das mein Vater nicht kostenlos organisiert und aufgearbeitet und meine Mutter nicht wunderschön und farbenfroh bemalt hatte.
Meine Freunde liebten es, zu uns zum Spielen zu kommen. Wir konnten nichts unordentlich machen, weil es schon unordentlich war. Wir durften uns vor dem Abendessen Schokobrote schmieren und ausprobieren, wie Äpfel mit Ketchup schmecken. Wir hüpften auf Sesseln, rannten nackt durch den Garten und bemalten die Wände in meinem Zimmer mit Fingerfarbe.
Es gab nur ein einziges Tabu: das Herrenzimmer. So hieß ein Raum am Ende des Flurs im ersten Stock. Er war immer abgeschlossen, aber der Schlüssel steckte von außen. Meine Mutter hatte mich einmal mit hineingenommen. Ein langweiliges Zimmer mit Sofa und Schränken. An der Wand hing ein Bild von meinem Großvater. Der war schon gestorben, bevor mein Vater auf die Welt kam.
„Es ist Kunst“, sagte Mama. „Ein Raum, der von der Zeit unberührt bleibt.“
Sie starb, als ich fünfzehn war. Im Ort erzählte man sich, sie sei an Drogen gestorben, aber sie hatte Darmkrebs und es war schnell gegangen. Mein Vater nahm den Verlust grimmig hin. Ich wusste, dass er heimlich weinte. Oft legte er mit kraftvollem Druck den Arm um mich und sagte: „Wir schaffen das Junge, mach dir keine Sorgen.“
Und wir schafften das. Ich kümmerte mich ums Einkaufen, Kochen und mein Abitur. Mein Vater verbrachte die meiste Zeit in dem Schuppen mit den fünf Bulli-Wracks, an denen er herumbastelte. An den Sommerabenden saßen wir zusammen auf der Veranda, schauten der flatternden Fahne mit der Friedenstaube zu und manchmal teilten wir uns einen Joint. Später war Bine dazugekommen.
Mein Vater war glücklich, dachte ich, als ich den Blinker setzte, um die Autobahn zu wechseln. Er hatte genau das Leben, das er wollte. Er war zu jedem Geburtstag, zu Weihnachten und im Sommer für ein paar Wochen zu uns gekommen. „Du weißt, wie gerne ich fahre“, hatte er gesagt. „Und ich habe doch viel mehr Zeit als ihr.“
Bine und ich hatten inzwischen selbst einen erwachsenen Sohn und mein Vater war ein wunderbarer Opa gewesen. Seit Jahren, oder eigentlich Jahrzehnten – wo war bloß die Zeit geblieben? – nahmen wir uns vor, einen Besuch in Vaters Villa zu machen und unserem Jungen zu zeigen, wo ich aufgewachsen war. Aber irgendetwas war immer dazwischengekommen. „Lasst mal“, hatte Vater gesagt, „ich bin ja froh, wenn ich mal raus komme.“
Die Straße vor mir verschwamm ein bisschen. Erste Tränen bahnten sich ihren Weg. Ich liebte meinen Vater. Der Gedanke, dass er nicht mehr da sein könnte, war unerträglich.
Bine hatte gestern gefragt, ob ich die Villa nicht behalten will. „Immerhin ist es dein Elternhaus.“
„Ich weiß nicht. Vermutlich gehört sie längst der Bank.“
„Ich habe mich immer gewundert, dass es bei Euch überhaupt keine alten Möbel von deinen Großeltern gab.“
„Er hat alles verkauft. Das ganze Haus war voller Antiquitäten und echter Teppiche. Von dem Geld haben wir gelebt.“
An einer Brücke leuchtete eine Stauwarnung auf. Ich nahm Gas weg und schaltete die Warnblinkanlage ein, als ich vor mir die Rücklichter sah.
Ich konnte mich nicht erinnern, dass mein Vater je einer geregelten Arbeit nachgegangen war. Aber Geld war immer genug dagewesen. Seine Hauptbeschäftigung bestand darin, aus alten Dingen neue zu machen. Wenn irgendwo Sperrmüll an der Straße stand, dann war das für ihn ein Fest. Er fuhr mit dem einzig intakten Bulli los und kam erst Stunden später mit vollgestopfter Ladefläche zurück. Ich half ihm beim Ausräumen und er erklärte mir bei jedem Stück, wie er es wieder schön machen würde. Dabei war er glücklich wie ein Kind.
Ich fuhr von der Autobahn ab. Die Straßen waren mir fast schmerzhaft vertraut. Zuerst lenkte ich den Wagen zum Marienhospital. Das Neonlicht und der Desinfektionsgeruch holten mich zurück in die Gegenwart. Eine freundliche Schwester brachte mich zu einem Zimmer.
Da lag mein Vater, in einem Halbkreis aus blinkenden Geräten. Er sah so schmal aus und sein schneeweißes Haar hätte jedem Zauberer in einem Fantasyfilm Ehre gemacht. Er trug eine Atemmaske, auf seinem Handrücken war ein Infusionszugang festgeklebt. Seine Augen waren geschlossen. Ich nahm vorsichtig die Hand ohne Schläuche. Sie war kühl.
„Papa?“ Er reagierte nicht. „Ich soll dich von Bine grüßen“, sagte ich trotzdem.
Eine Weile saß ich neben ihm und versuchte anzukommen. Aber ich hatte keine Ruhe. Ich musste mir ein Zimmer besorgen. Der Gedanke, in Vaters Haus zu gehen, stand vor mir wie eine Wand. All die Erinnerungen, überschattet von dem schlechten Gewissen, dass wir ihn nie besucht hatten. Auf keinen Fall wollte ich dort übernachten. Aber ich musste trotzdem heute noch hinfahren, um nach dem Rechten zu sehen. Danach würde ich wiederkommen und so lange wie möglich bei Vater bleiben.
Nachdem ich in einem Hotel eingecheckt hatte, fuhr ich zur Villa. Als ich in die Eichenalle einbog, war ich erstaunt, wie riesig die Bäume inzwischen waren. Die anderen alten Villen standen in gepflegten kleinen Parks. Manche hatten jetzt Überwachungskameras über der Tür.
Unser Grundstück stach heraus. Der Garten war eine Wildwiese und die Fassade blätterte.
Ich parkte vor dem Bulli-Schuppen und lief den zutiefst vertrauten Weg zum Haus entlang. Als ich aufschloss, schwang die Tür nach innen – und weiter kam ich nicht. Die kleine Halle stand voll! Möbel, Lampen, gefüllte Müllsäcke, Kartons und ein Stapel Zinkwannen.
Vater hatte anscheinend entrümpelt und sich dabei bestimmt überanstrengt. Mein Gewissen brachte mich fast um. Aber so war er. Hat nie etwas gesagt. Immer einfach gemacht.
Ich bahnte mir einen Weg durch das Chaos bis zur Treppe. Auf den Stufen waren Bücher gestapelt. Hunderte, tausende von Büchern. Nur am Geländer war ein schmaler Gang nach oben frei. Mir wurde mulmig und jetzt nahm ich auch diesen Geruch wahr. Es roch nach Staub, nach alten Dingen und nach Mäusen. Ich bog vor der Treppe ab und kletterte durch einen Wald von alten Stehlampen zur Küche.
Zeitschriften! Die Küche war voll mit gebündelten und aufgetürmten Zeitschriften, die ganze Mauern bildeten. Ein kleiner Gang reichte bis zu einem winzigen freien Stück der Arbeitsplatte. Ein Häufchen Tütensuppen, Brot, Margarine, Marmelade, ein Wasserkocher und Instantkaffe. In der Spüle benutztes Geschirr.
Mit rasendem Herzen kehrte ich zurück zur Treppe und zwängte mich an den Büchern entlang nach oben.
Er hatte die Sachen sortiert! Stühle und Sessel in meinem Zimmer. Kommoden und Truhen in Mutters Atelier. Kleidung und Schuhe in seinem Schlafzimmer, Aktenordner im Flur. Ein Raum voller elektrischer Geräte, einer voller Glas und Porzellan. In der Bibliothek ein Berg aus aufgerollten Teppichen.
Wie in einem klaustrophobischen Alptraum quetschte ich mich von Raum zu Raum. Am Ende des Flurs waren ein paar Quadratmeter Platz vor dem Herrenzimmer.
Der Schlüssel steckte. Er knirschte laut, als ich ihn drehte und es knackte in den Angeln. Das Zimmer schlief im Dämmerlicht unter einer dicken Staubschicht. Ich trat ein und zog beklommen den Vorhang auf. Staubwolken erhoben sich in die Luft. Zum ersten Mal seit Jahrzehnten schien die Sonne herein. Ein riesiges Ledersofa, seidene Orientteppiche, erlesene Antiquitäten mit Schellackpolitur. Über dem Sideboard das gerahmte Schwarzweißfoto von meinem Großvater.
Er schaute nicht in die Kamera. Sein Blick war heroisch in eine glorreiche Ferne gerichtet. Vorne auf seiner Schirmmütze, über zwei Kordeln, ein Totenkopf. Auf dem Kragenspiegel gestickte Eichenblätter, dazwischen ein Eisernes Kreuz. An einer Ecke des Bildes ein Trauerflor. Dahinter steckten ein paar Stäbchen, die in einem früheren Leben Stängel von Blumen gewesen waren.
Ich blieb. Setzte mich erschöpft auf die Kante des Couchtisches. Etwas hier war wichtig. Auf einmal brach in mir die Sehnsucht nach meiner Mutter auf, wie eine alte Wunde. Sie würde mir das alles erklären können. Sie hatte meinen Vater geliebt. Sie hatte ihn verstanden. Und sie hatte ihn beschützt.
Ich konnte meine Augen nicht von dem Portrait abwenden, von diesem Blick in die Ferne. Die Befremdung war überwältigend. Wer bist du?, dachte ich. Welche Macht hast du, diesen Raum aus der Zeit zu nehmen, obwohl sich das ganze Haus gegen dich wehrt?