Leonie
von Claudia Grothus
Leonie war schon groß, so groß, dass sie beim Ausräumen der Spülmaschine helfen konnte. Die Teller und Tassen waren zerbrechlich, deshalb durften kleine Kinder das Geschirr nicht anfassen. Aber jetzt, sagte der Papi, sei sie alt genug. Leonie selbst war da ganz und gar derselben Meinung.
Ein bisschen zu klein war sie aber noch für den Geschirrschrank. Der hing ganz schön weit oben. Deshalb stellte der Papi ihr eine Stufe hin, auf die sie hinaufsteigen konnte.
Und so stand sie da erhöht und bereit ihre wichtige Aufgabe zu übernehmen. Papi nahm die Sachen aus der Spülmaschine und reichte ihr jeden Teller und jede Tasse einzeln. Er hatte ihr erklärt, dass sie alles mit beiden Händen anfassen sollte. Das war natürlich nicht nötig. Sie konnte das Geschirr auch mit einer Hand festhalten, aber da war der Papi unerbittlich.
Leonie wusste genau, wo sie die Tassen und Teller hinstellen musste. Das konnte sie auch daran sehen, dass der Schrank nicht ganz leer war. Links in der Ecke stand eine einzelne Tasse und rechts war der Stapel mit den Tellern, von denen einige fehlten. Nach vorne gehörten die besonderen Sachen: Zuckerdose und Sahnekännchen. Das waren die Helden im Geschirrschrank. Am mächtigsten war die große, bauchige Kaffeekanne, die ganz hinten in der Mitte stand und über alles wachte. Die durfte Leonie noch nicht hochheben, aber die wurde auch nur hervorgeholt, wenn Besuch da war.
Leonie fand es beruhigend, dass die Kaffeekanne immer da war. Groß und stark passte sie auf die anderen auf. Alle Tassen und Teller wollten gern in der Nähe der Kaffeekanne sein. Da fühlten sie sich sicher.
Schließlich, dachte Leonie, kann sich das Geschirr ja nicht von selbst bewegen. Das war ganz schön schlimm, fand sie. Die Tassen wollten zurück in den Geschirrschrank und waren darauf angewiesen, dass sie, Leonie, ihnen dabei half.
Wenn die Teller und Tassen, nach einem spannenden Ausflug auf den Esstisch, erstmal in der Spülmaschine sauber gebadet worden waren, dann waren sie müde und wollten nach Hause.
Leonie nahm sorgsam vom Papi eine Tasse entgegen und fühlte dabei Vorfreude – ihre eigene, genauso wie die der Tasse im Schrank und der Tasse in ihren Händen. Die beiden Tassen begrüßten sich überschwänglich und freuten sich, dass sie jetzt wenigstens schonmal zu zweit waren.
Alle Tassen hatten sich untereinander besonders gern. Da waren Milchkännchen und Zuckerdose schon eher ein bisschen überheblich. Klar, die waren ja auch quasi die Einzigen ihrer Art.
Leonie stellte die zweite Tasse sorgfältig neben die wartende Erste und richtete die Henkel genau gleich aus. So war es richtig, so hatten es die Tassen am liebsten. Gespannt warteten sie, wer als Nächstes in den Geschirrschrank zurückkehren würde.
Es war ein Teller. Die Sehnsucht der Tassen nach ihren Freunden wurde durch diese Enttäuschung noch größer. Dafür freute sich der kleine Tellerstapel, dass er wieder etwas höher geworden war. Teller waren ganz anders als Tassen. Ihnen ging es nicht um die Gemeinschaft. Für sie war es wichtig, ein kompletter Stapel zu sein und damit größer als das Milchkännchen. Und das konnten sie nur mit allen erreichen. Da durften sogar die kleinen Unterteller mitmachen.
Die größeren Frühstücksteller waren so stark, dass sie die Untertellerchen locker tragen konnten. Und die kleinen Unterteller waren grazil und wendig. Sie nahmen die höchste Position im Tellerstapel ein. Das war ganz schön schwierig und nicht alle Teller trauten sich das. Aber zusammen mit den anderen fand schließlich jeder den Mut, weit oben auf dem Stapel zu stehen.
Jetzt kam wieder eine Tasse und die anderen beiden Tassen jubelten. Drei! Sie waren schon drei von sechs! Vielleicht würde es heute wirklich klappen, dass sie alle zusammen wären.
Und wieder eine Tasse! Zu viert konnte man schon in einem Quadrat stehen. Und es erfüllte sie mit tiefer Befriedigung, wie ihre Henkel alle in die gleiche Richtung zeigten.
Derweil verlor der Wettkampf zwischen den Tellern und dem Milchkännchen nichts von seiner Spannung. Wenn sie es schafften, dass alle sechs Frühstücksteller und alle sechs Unterteller in den Schrank kamen – dann, und nur dann, konnten sie das Milchkännchen übertreffen.
Dem Milchkännchen war das mehr oder weniger egal – aber den Tellern eben nicht. Alles, wofür sich das Milchkännchen interessierte, war die große Kaffeekanne. Denn die hatte genau die gleiche bauchige Form wie sie, nur eben in groß und mit Deckel. Das Milchkännchen wollte später auch einmal eine so schöne Kaffeekanne werden und ein eigenes Service im Schrank haben. Auf jeden Fall aber wollte es die Tülle genauso ausgerichtet haben, wie die ihres großen Vorbilds.
Die Zuckerdose war über alle erhaben und sehr erwachsen. Schließlich war sie die Einzige, die auch im Schrank ihrer Aufgabe nachgehen musste.
Wieder eine Tasse! Jetzt war die gespannte Hoffnung der Tassen fast nicht mehr auszuhalten. Eine! Es fehlte nur noch eine! Würden sie noch vor den Tellern wieder vollständig zusammen sein?
Es ging um alles!
Ein Frühstücksteller kam herein. Hurra! Alle sechs Frühstücksteller waren zusammen. Jetzt waren sie stark genug. Jetzt durften die Untertellerchen auf sie drauf gestapelt werden. Es waren fünf und es fehlte nur ein ganz kleines Stück, bis sie größer waren als das Milchkännchen.
Und? Und? Und???
Jaaaaaaaaaa! Ein Unterteller!!!
Gewonnen! Gewonnen! Die Teller hatten gewonnen! Ihr Jubel war unbeschreiblich.
Die Tassen waren verständlicherweise etwas zerknirscht. Ihnen fehlte immer noch eine. Und da kam sie! Endlich! Wenn sie gekonnt hätten, wären sich die Tassen in die Arme gefallen.
Es ist vielleicht schwer, zu verstehen, aber wenn alle sechs Tassen vollständig waren und auch alle anderen Teile vom Service, dann erst war alles gut. Dann war niemandem etwas passiert, dann waren sie zusammen und nichts anderes zählte. Das war Geborgenheit, Gemeinschaft, Zuhause, Glück!
Leonie betrachtete voller Liebe und tief gerührt das Geschirr im Schrank. Wie wunderschön war es doch, den Tassen und Tellern zu helfen und sie glücklich zu machen. So musste es dem lieben Gott gehen, dachte sie. Vielleicht sind wir für ihn auch so etwas wie ein Frühstücksgeschirr, das wieder zusammengesetzt wird.
Sehr andächtig schloss sie die Tür des Geschirrschranks und stieg von der Stufe.
Sie drehte sich zum Papi um und strahlte ihn an.
„Das hast du super gemacht“, sagte der Papi. „Zur Belohnung bekommst du jetzt einen Keks und ich einen Kaffee, was meinst du?“
Leonie nickte voller Vorfreude und griff in das Keksglas, das der Papi ihr hinhielt.
Aber dann passierte es: Papi ging an den Geschirrschrank und wollte eine Tasse für seinen Kaffee herausnehmen.
„Nein!“, rief Leonie. „Nicht an den Schrank! Lass die Tassen da drin!“
„Aber Leonie, wie soll ich denn Kaffee trinken ohne Tasse?“
Leonie geriet außer sich. „Nein, nein, nein!“ Tränen liefen ihr über die Wangen und sie versuchte, den Papi vom Schrank wegzuschieben.
„Du darfst keine Tasse da rausholen, das darfst du nicht!“ Sie begann mit ihren kleinen Fäusten auf den Papi einzutrommeln. „Nein! Lass die Tassen! Nimm keine heraus. Bitteeeeee!“ Sie schrie. Und je mehr der Papi sie an den Schultern festhielt und versuchte, etwas zu ihr zu sagen, desto lauter schrie sie, schlug um sich, warf sich auf den Boden und trommelte mit den Fäusten. Verzweifelt wurde ihr klar, dass der Papi nicht auf sie hören würde.
Neue Nachricht:
Hallo Schatz, Leonie hat gerade einen apokalyptischen Schreianfall, weil ich eine Tasse aus dem Schrank genommen habe. Bringst Du Pizza und Rotwein mit? Es gibt berechtigte Hoffnung, dass sie gleich vor Wut ohnmächtig wird, dann hätten wir eine romantische halbe Stunde.