Kairos - von Jenny Erpenbeck

Zwei Menschen, ein Zeitenwandel und die Unfähigkeit, mit Schuld umzugehen

Direkt nach dem Prolog kommt das Erstaunen: Kann man eine Geschichte aus zwei Perspektiven gleichzeitig erzählen? Jenny Erpenbeck kann es. Wir erfahren von den beiden Hauptprotagonisten, der jungen Katharina und dem älteren Hans, was sie in jedem Moment ihrer beginnenden Beziehung denken und fühlen.

Das Faszinierende an dieser Erzählweise sind die Einblicke in die Gedanken, die wir alle aus verliebten Zeiten kennen. Das Bangen, das Hoffen, das Infragestellen der kleinsten Geste, das Interpretieren jedes einzelnen Satzes, das suchtartige Verlangen nach der Gegenwart des Anderen und die vollkommene Inkompetenz, die Lage objektiv einzuschätzen.

Wir begleiten Katharina und Hans in Ostberlin zwischen 1986 und 1992. Sie zelebrieren ihre Beziehung, als wäre sie etwas Heiliges, etwas, das Gedenktage, Ehrungen, Gleichnisse und Rituale benötigt. Sie verbinden ihre Liebe mit Musik, Kunst und Literatur.

Er magnetisch angezogen von ihrer Unbedarftheit, sie seiner väterlichen Führung verfallend.

In ihrer Verletzlichkeit bricht Katharina schließlich nach einer Zurückweisung kurz aus der Beziehung aus. Hier wendet sich das Blatt grundlegend und zeigt die längst erahnte Schattenseite ihrer Verbindung. Hans erhebt Katharinas Seitensprung zum Beziehungsinhalt, er instrumentalisiert ihre Schuld auf perfide und narzisstische Weise.

„Kairos“ erzählt auf hohem Niveau, reißt hunderte Metaphern von der Antike über die klassische Musik bis zu Bertolt Brecht an und lässt sie dann, nachdem sie das Gefühl für den Moment vertieft haben, wieder liegen wie ein vergessenes, aufgeschlagenes Buch.

Gleichzeitig ist „Kairos“ ein intensiv zu erlebendes Abbild der Zeitgeschichte und begleitet die DDR in der Phase ihres Untergangs. Und dabei geht es nicht um die dominante westliche Sicht, die immer nur auf DDR-Flüchtlinge, Grenzschüsse, Stasi und Bananen fokussiert. Es geht um Menschen, deren Lebenswelt auf einmal an allen Ecken und Enden bröckelt. Da rennen nicht alle selig mit ihrem Begrüßungsgeld in die Konsumtempel des Westens. Da verlieren auch Menschen ihre Verortung in ihrem vertrauten Wertesystem, fühlen sich seltsam verloren und auch einfach vom Kapitalismus okkupiert.

„Kairos“ ist der Gott des richtigen Moments – in Jenny Erpenbecks Roman scheint für nichts der richtige Moment zu sein, außer für die erste zufällige Begegnung von Katharina und Hans.

Sehr schön, einmal wieder intelligente, empathische und absolut lesbare Sprachkunst geboten zu bekommen.

Jenny Erpenbeck
Kairos
ISBN 978-3328600855
Penguin Verlag 2021