Tag 3 – Katja auf dem Hochufer
Schlaf wird besser. Ich entwickle eine Routine. Morgens gehe ich nach dem Frühstück vom Hotel aus am Strandübergang 11 zum Wasser und laufe bis Strandübergang 9, der mich zu meinem Zimmer zurückführt.
Heute steht das Kapitel „Katja“ an. Viel schwieriger als Jakob, weil ich mir über ihn ja schon während der Bahnfahrt intensive Gedanken gemacht hatte. Katja muss ich fast von null anfangen. Die einzigen wichtigen Geschehnisse in meinen Notizen: Rolf kommt überraschend aus Frankreich und Katja findet einen ziemlich gruseligen Brief in ihrem Kasten.
Alles andere in diesem Kapitel ist weiterhin eine Einführung der Personen und ihrer Beziehungen untereinander. Das kann ich natürlich nicht so stumpf beschreiben. „Katja und Rolf sind verheiratet und haben eine Tochter. Rolf ist aber irgendwann ausgebrochen und seit dem fast nur noch in der Welt unterwegs und ab und zu auf Stippvisite zuhause.“ Das ist einfach nur langweilig. Unter Autoren nennt man das, wenn es über längere Textabschnitte geht, „Infodumping“.
Ich muss also die Verhältnisse unter den Menschen in der Villa in eine Handlung verpacken. Die Informationen sollten über Gedanken, Verhalten oder wörtliche Rede gleichsam in die Geschichte hineingeschmuggelt werden.
Meine Strategie dabei ist, dem ganzen einen äußeren Ablauf zu geben (ein Tag, einen Gang durch den Garten, die Ankunft von Rolf, ein Abendessen mit allen Hausbewohnern) und diesen in immer kleinere Einzelszenen zu zerlegen, die mir dann idealerweise im kreativen Flow „aus der Feder fließen“.
Den Vormittag über läuft es gut. Ich halte mein Erzählpensum ein. Da ich heute früher anfangen konnte, ist um halb eins schon Mittagspause. Draußen ist die Sonne herausgekommen und heute will ich mal auf der Düne über die kleine Steilküste wandern.
Unterwegs bin ich permanent damit beschäftigt, den Reißverschluss meiner Jacke zu öffnen und zu schließen. Sonne und Wind lassen einen andauernd zwischen T-Shirt und Daunenjacke wechseln. Im Laufen und mit dem Blick von oben auf das Meer denke ich nach.
Mein Roman beginnt sich selbständig zu machen. Das hat auch mit dieser besonderen Schreibsituation zu tun. Ich habe nur begrenzt Zeit und das lässt nicht viel Spielraum für Änderungen zu. Mir war zuhause schon klar, dass dieses komprimierte Schreiben sich auf meine Geschichte auswirken wird.
Ich kann nicht lange nachgrübeln. Die Handlung muss vorangehen und schnelle Entscheidungen sind gefragt. Deshalb schreibe ich über große Strecken sehr impulsiv und so, wie es mir spontan einfällt, logisch und stimmig erscheint. Das, was dabei herauskommt, muss ich zu einer guten Geschichte verarbeiten. Eine spannende Aufgabe, die aber ziemlich viel Toleranz mir selbst gegenüber erfordert. Immer das Bedürfnis, die Sätze sofort möglichst perfekt zu machen, keine trivialen Formulierungen zu benutzen (sagte er, sagte sie) und richtig gute Umschreibungen zu finden um Stimmungen zu transportieren. Läuft hier nicht!
Meine Protagonist:innen handeln so, wie diese Personen eben handeln würden, wenn es sie gäbe. Und das nimmt Einfluss auf das Geschehen, auf die Emotionen und die Beziehungen.
Bis zum Mittag ist mir mein zweites Kapitel ziemlich komisch im Sinne von humorig geraten. Das wollte ich gar nicht. Aber dann war es einfach da. Schwierig, mich daran anzupassen, es als gegeben zu nehmen und dieser Geschichte eher hinterher zu schreiben anstatt sie zu führen.
Ich komme aber da oben in der Sonne über dem Strand zu dem Schluss, dass ich mich einfach darauf einlasse. Egal, was am Ende dabei herauskommt. Das ist das Experiment. Alles andere geht jetzt nicht.
Ich muss für den Moment damit leben: Wenn ich in erster Linie die Handlung vorantreibe, leidet die Sprache. Ich bin gerade wie eine Bildhauerin, die eine Büste anfertigt. Ich schlage so lange die groben Gesichtszüge, bis eine Mimik, ein Ausdruck fixiert ist. Damit es aber das Abbild eines realen Menschen wird, ist es nötig, später sehr viel nachzuarbeiten und zu schleifen.
Damit bin ich zufrieden. Mehr als das. Damit macht mir diese ganze Challenge Spaß.
Am Nachmittag schreibe ich die Schlüsselszene, in der Katja den anonymen Brief öffnet. Die Protagonist:innen werden in ihrem Schreck sehr real. Sie sind jetzt schon ganz deutlich unterscheidbar, man kennt sie gut, so gut, dass man schon bestimmtes Verhalten von ihnen erwartet, dass Sympathien da sind. Die Leser:innen sind jetzt schon in der Villa eingezogen, haben in der Wohnküche Kaffee getrunken und auf der Veranda in fröhlicher Runde Käse aus Frankreich gegessen.
Das ist gut für den zweiten Schreibtag. Richtig gut.